Tiere sind auch nur Menschen
Die Forschung entschlüsselt das Gefühlsleben von Tieren. Wie nah sind sie uns? (Sehr nah.) Was geht in ihnen vor? (Viel.)
Es muss ein Unmensch sein, wer im Schwein nur das Kotelett sieht. Nicht einmal der Direktor eines Schlachthofes wünscht den Tieren Böses. «Wenn diese Lebewesen schon sterben müssen», sagt Urs Kunz, Inhaber eines Schlachthofes in der Zentralschweiz, «unternehmen wir alles, um den Tieren einen vollständig schonenden und feinfühligen Umgang zu gewähren. Die Betäubung muss kurz und schmerzlos sein.» In seinem Betrieb werden vor allem Schweine geschlachtet, aber auch Rinder und Kälber, Hunderte pro Woche, Tausende im Monat, Abertausende im Jahr, um den Heisshunger der Konsumenten in der Schweiz auf Koteletts, Steaks, Nierstücke, Geschnetzeltes, Gehacktes und Gebratenes zu stillen.
Mastschweine werden heute mittels modernster Computertechnologie einzeln gefüttert, weil sie sehr futterneidisch sind. Sie tragen ein Band mit einem Chip um den Hals, der am Eingang der Futterstation abgelesen wird. Kommt das Schwein mit dem Chip in die Nähe der Station, öffnet sich die Tür automatisch, und die vom Computer errechnete Futtermenge wird ausgeschüttet. Die Tür fällt gleich hinter dem Schwein wieder ins Schloss, damit kein zweites Tier an den Futtertrog gelangt.
Einige Tiere erreichen in ihrem kurzen Leben – Mastschweine werden durchschnittlich sechs Monate lang gemästet und dann geschlachtet – jedoch erstaunliche Fähigkeiten: Sie begreifen, dass ihnen der Chip Zugang verschaffen kann. Wenn sie ein Halsband auf dem Boden herumliegen sehen, nehmen sie es ins Maul und gehen zur Futterstation. So ausgerüstet, profitieren diese Tiere von einer doppelten Ration Futter.
Diese Geschichte erzählt die 61-jährige Tierforscherin Temple Grandin, die an Autismus leidet, in ihrem Buch «Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier». Schweine können offensichtlich Schlussfolgerungen ziehen, zielgerichtet vorgehen und sehr egoistisch handeln – wie es viele Menschen auch tun. Der Unterschied ist, dass Millionen Schweine zu Wurst und Koteletts gemacht werden. Die Nutzung vieler Tierarten durch die Menschen hat eine lange Tradition. Der Schweizer Philosoph Urs Thurnherr spricht von einem parasitären Verhältnis der Menschen zum Tier, weil der Mensch vom Vieh lebe, ohne dass das Vieh selber etwas davon habe.
Die eigensüchtige Nutzung ist zwar nicht einzigartig in der Natur: Jeder Tiger, der eine Antilope reisst, tötet eine andere Art, um nicht zu verhungern. Der Kuckuck betrügt den Fink und legt ihm ein Ei ins Nest, damit dieser sein Küken statt der eigenen Jungen hege und pflege. Blattkäferlarven lassen sich von Ameisen in deren Bau tragen und verspeisen später zum Dank die kleinen Ameisenlarven. Doch der Mensch ist das einzige Wesen, das über sein Tun Rechenschaft abgeben kann und soll. Tut er das auch? Was essen wir eigentlich, wie nehmen wir Tiere wahr? Und nehmen die Nutztiere uns wahr, denken sie nach, fühlen sie sogar Liebe, empfinden sie Abscheu vor dem, was wir ihnen antun?
Die Schlachthofdirektoren zumindest scheinen, gefragt, ob man ihnen einen Besuch abstatten dürfe, wie in die Enge getrieben. Sie reagieren mit Nervosität, Ablehnung, vielleicht auch mit einem schlechten Gewissen. Als verlange man von ihnen eine moralische Legitimation für ihr berufliches Tun. Einer der grössten Schlachthöfe der Schweiz, auf dem laut eigener Statistik jährlich 237 000 Schweine und fast 100 000 Rinder und Kälber getötet werden, liegt mitten in Zürich. Frei nach dem Motto «Wir leben Zürich» gibt die Stadt auf ihrer Homepage zwar vor, die Öffentlichkeit nicht zu scheuen und gibt sich sehr modern: «Wie kommt das Fleisch auf den Teller? Wie wird das Rind zum Hamburger?
Ein Besuch im Schlachthof Zürich ist in jedem Fall ein Erlebnis.» Doch die Anfrage wird vom Direktor rundweg abgelehnt mit dem dürftigen Verweis auf einen Entscheid des Verwaltungsrates. Ähnlich redet sich der Direktor des Schlachthofes St. Gallen heraus.
Entgegenkommen schliesslich im Schlachthof in Sursee. Der Direktor lädt zu einem Treffen. Dort allerdings, in einem kahlen, fensterlosen Raum, muss erst eine lange Liste von Bedingungen und Abmachungen unterschrieben werden, die während und nach einem Besuch einzuhalten sind. Trotz dem Einverständnis mit allem verweigert sich der Schlachthofdirektor fortan kommentarlos jedem weiteren Ersuchen.
Ergiebiger ist dagegen der Besuch auf einem Landwirtschaftsbetrieb in der Umgebung von Bern. Zusammen mit Michèle Bodmer, Tierärztin und selber auf einem Bauernhof in der Innerschweiz aufgewachsen, gehts vor Sonnenaufgang los, um das Wesen von Nutztieren besser kennenzulernen. Die Tierärztin arbeitet für ein Programm, das sich Bestandesmedizin nennt und von der Wiederkäuerklinik der Tiermedizin an der Uni Bern geleitet wird. Alle vierzehn Tage fährt die Fachfrau nach genauem Plan zu den Bauern, die mit den Verantwortlichen der Wiederkäuerklinik einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen haben. Ziel ist es, mögliche Krankheiten der Kühe frühzeitig zu erkennen, vor allem Störungen, die den Fortpflanzungserfolg stören könnten. «Es geht eigentlich immer um die Fruchtbarkeit der Tiere, denn wenn sie nicht aufnehmen, gibt es Verluste», sagt Michèle Bodmer. Die Tierärztin prüft die Eierstöcke mit ihren flinken Händen, die in Plastikhandschuhen stecken. Danach leert sie den Darm der Kuh, manchmal führt sie ihr auch eine Ultraschallsonde ein. Alle einundzwanzig Tage wird eine Kuh stierig. Dann sollte der Bauer den Besamer rufen. Manchmal, wenn der künstliche Besamer nichts nützt, hilft der traditionelle Natursprung. Denn auch Kühe brauchen etwas Stimmung.
Schimpansenmathematik
Vielleicht sind wir uns gar nicht bewusst, wie unanständig es ist, ohne Anklopfen in einen Kuhstall zu treten. Bauer Jürg Hänni begrüsst höflich die Tierärztin, und sie sprechen über ein Tier in der Herde. Eine andere Kuh, Samira, mit ihren zehn Jahren weit über dem Durchschnitt einer Schweizer Kuh, Rasse Braunvieh, dreht sofort ihren Kopf und schaut nicht zum Bauern und nicht zur Tierärztin, nein, sie blickt neugierig und fragend dem unbekannten Besucher direkt ins Gesicht. Eine Minute lang, zwei, vielleicht sogar drei Minuten. Dann leckt sie sich mit der grossen Zunge übers Maul, über die grossen braunen Lippen und wendet sich wieder dem Futter zu. Die Besprechung von Tierärztin und Bauer nimmt kein Ende. Samira verrichtet ihre Notdurft in hohem Bogen, natürlich ohne nach hinten zu schauen – wer nichts abbekommen will, muss einen Satz zur Seite machen. Jetzt tritt der Lehrling dazu, auch ihn würdigt Samira keines Blickes. Doch plötzlich wendet sie nochmals ihren schlanken Hals, prüft den Fremden erneut mit kritischem Blick, als müsste sie noch genauer schauen, den Kopf nun etwas tiefer gebeugt, die grossen braunen Augen in sich ruhend. Samira ist eine gutmütige Kuh, erzählt die Bäuerin, ein Tier, das sich auffällig unauffällig verhalte. Sie ist kein Rüpel, aber auch nicht eine, die schreckhaft und scheu sei. In der Hierarchie der Kuhherde befinde sie sich im oberen Drittel, aber nicht zuoberst. Sie schubst ihre Kolleginnen nicht herum, frisst gerne das schöne Gras, aber tut dies doch nicht unter dem Zaun hindurch. Beim Melken steht sie ruhig, aber nicht starr. Vielleicht ist sie deshalb schon so lange im Stall, Jahre länger als der schweizerische Durchschnitt, der bei fünf Jahren liegt. Doch selbst Samira wird am Ende der Schlachthof blühen. «Ich ertrage das schwer», sagt Bäuerin Elisabeth Hänni, «ich bin nie da, wenn eine Kuh abgeführt wird. Aber es gehört halt zu unserem Leben.»
Die Erkenntnisse der Tierpsychologie, der Verhaltensforschung und der Neurowissenschaften führen dazu, dass unsere Mitlebewesen immer näher an uns heranrücken – die Geschuppten, Gefiederten, die Vierbeinigen und auch die Zweibeinigen: Schimpansen, die rechnen und sich in Blindensprache ausdrücken können; Raben, die ihre Artgenossen überlisten; Ratten, die lachen und möglicherweise sogar so etwas wie Mitleid empfinden. Jedes Mal, wenn man glaubte, die Grenze zwischen Mensch und Tier endlich gezogen zu haben, kam eine andere Art daher und zeigte neue Verhaltensähnlichkeiten mit dem Menschen: Es gibt Schimpansen, die Bandenkriege austragen und sich aufs Blut bekämpfen; man hat Delfine beobachtet, die Massenvergewaltigungen bege¬hen, und Gangs von süss dreinschauenden Tümmlern, die Delfinkälber morden – grundlos.
Eines ist klar, Tiere sind mehr als Fress- und Gebärmaschinen. Sie sind schlau: Berühmtheit für seine mentalen Fähigkeiten erlangte etwa der Hund Rico, der in der Sendung «Wetten, dass…?» 1999 vor laufender Kamera siebenundsiebzig Plüsch- und Plastiktiere auseinanderhalten konnte. Darüber hinaus wusste er exakt das entsprechende Spielzeug zu apportieren, dessen Namen ihm seine Meisterin nannte. Ricos Fähigkeiten waren so erstaunlich, dass er später Karriere in der Wissenschaft ¬machte. Forscher vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig nahmen den Border-Collie unter ihre Fittiche und brachten dem Tier neue Dinge bei, die es ebenfalls spielend lernte. Es gelang ihm, die richtigen Begriffe den richtigen Gegenständen zuzuordnen, eine Leistung, die gemäss den Forschern eine «reife, eigenständige Denkleistung» sei und auf logischen Operationen im Kopf beruhen müsste. Zuletzt schaffte es Rico 2002 sogar ins Wissenschaftsmagazin «Science», weil er zweihundert Wörter unterscheiden konnte. Er übertraf damit sogar das Vokabular von trainierten Affen, Delfinen, Seelöwen und Papageien.
Präriehunde kennen Verben
Tiere reagieren spontan auf Neues: Aufsehen erregte eine Studie des Verhaltensökologen Alex Kacelnik mit neukaledonischen Krähen, welche die Fähigkeit haben, Werkzeuge herzustellen. Im Versuch zeigte sich, dass die Tiere dabei sogar zu Innovationen in der Lage waren. Kacelnik wollte ursprünglich nur herausfinden, ob die beiden Krähen Betty und Abel einen hakenförmigen oder einen geraden Draht benutzen, um Futter aus einer Tube zu klauben. Kurze Zeit später klaute die dominantere Krähe Abel der submissiven Betty den für diesen Zweck besser geeigneten hakenförmigen Draht. Als Betty merkte, dass sie mit dem geraden Stück nicht so schnell ans Futter kam, bog sie sich den Draht selbst zurecht. Sie optimierte dabei sogar die Krümmung des Drahtes. Eine derartige Lernfähigkeit hatte man zuvor noch nicht einmal bei Schimpansen beobachtet.
Tiere reden miteinander: Con Slobodchikoff, ein amerikanischer Verhaltensforscher von der Northern Arizona University, hat – ebenfalls 2002 – eine Arbeit über das Kommunikationsverhalten von Präriehunden veröffentlicht. Er entdeckte, dass sich diese scheuen Tiere miteinander über ihre Fressfeinde unterhalten und dabei ein Kommunikationssystem benutzen, das Substantive, Verben und Adjektive enthält. Die Tiere, die in ihrer Umgebung vielen Räubern wie Steinadlern, Kojoten, Bussarden, Füchsen, aber auch Menschen ausgesetzt sind, warnten sich gegenseitig mit unterschiedlichen Lauten, je nachdem, welcher Räuber angriff. Wahrscheinlich muss man sich das so vorstellen: «Hey Guys, es ist nur ein alter Mäusebussard – Alarmstufe hell-orange!»
Und Tiere sind liebesbedürftig: Sie haben ein reiches soziales Leben und benötigen Bindungen. Dass bei ihnen Wohligkeit vor dem Fressen kommt, bewies der amerikanische Verhaltensforscher Harry Harlow bereits in den Sechzigerjahren in seinen Versuchen mit Rhesusaffen. Er wollte wissen, ob Affenbabys eine milchspendende Mutterattrappe aus Draht oder eine aus weichem Stoff bevorzugten. Die Resultate waren recht eindeutig. Alle Affenbabys kuschelten sich an die Stoffattrappe, selbst wenn aus der Drahtattrappe Muttermilch kam. Harlow zeigte in weiteren Experimenten, die heute schon aus Tierschutzgründen nicht mehr möglich wären, auf, dass isoliert aufwachsende Affenbabys später stark verhaltensgestört waren.
Auch unsere Nutztiere sind Lebewesen mit einem vielfältigen Sozialleben, mit komplexen Emotionen und ausgereiften kognitiven Fähigkeiten. Rinder haben nicht nur strenge Hierarchien, sie bilden auch Freundschaften, sie sind sehr neugierig und zugleich schnell ängstlich. Schweine verhalten sich immer noch wie Wildschweine, wenn man sie freilässt, sie spielen gern und unterhalten verschiedenste soziale Bindungen zu den Tieren ihrer Gruppe. Und Schafe sind vielleicht zwar nicht besonders clever, nichtsdestotrotz sind sie sehr emotional und hassen nichts so sehr, wie von der Herde isoliert zu werden. Hühner sind ausgesprochen feinfühlige Tiere, mit strengen Hierarchien und einer oft empfindlichen, nervösen Psyche – die weissen, hochgezüchteten Legehennen-Rassen noch mehr als die etwas ruhigeren braunen Legehennen. Entscheidend ist jeweils das artspezifische Erbe: Die Wiederkäuer etwa sind klassische Beutetiere, sie lebten in Herden, waren immer auf der Hut und mussten sich dennoch die besten Plätzchen suchen (vermutlich sind sie deshalb so neugierig). Doch wie merkt man, dass es einem heutigen Huhn, einem modernen Rind, einer Geiss oder einem Schaf in seiner Umgebung – meist ein Stall auf einem Bauernhof – wohl zumute ist? In den vergangenen vierzig Jahren etwa ist die Rinderzucht derart schnell vorangeschritten, dass sich die Milchleistung einer modernen Hochleistungskuh auf 10’000 Liter im Jahr verdoppelt hat.
«Ein zeitgemässer Tierschutz orientiert sich heute nicht mehr nur an Gesundheit und Leidensfreiheit der Tiere, sondern muss das Wohlbefinden ins Zentrum rücken», sagt Lorenz Gygax. «Angesichts des wirtschaftlichen Drucks ist das den Bauern manchmal schwer zu erklären.» Gygax ist Verhaltensforscher und Statistiker am Zentrum für tiergerechte Haltung an der Forschungsanstalt Agroscope Reckenholz-Tänikon. Tänikon liegt im Hinterthurgau, weit weg von den grossen Hochschulen des Landes. Die Büros der Forscher sind auf dem Gelände eines ehemaligen Nonnen-Klosters errichtet worden, die Stallungen der Tiere – Schafe, Schweine, Rinder, manchmal auch Ziegen – sind im Gutsbetrieb auf der anderen Strassenseite. Stille herrscht auf dem kleinen Friedhof vor der mittelalterlichen Klosterkirche. Dann lässt der Gärtner den Rasenmäher aufheulen. Höchste Zeit, sich am Zentrum etwas umzusehen.
Wie misst man ihren Schmerz?
Die Versuchsanlage der Schafe in Tänikon befindet sich im hinteren Teil der Stallungen. Hier haben Gygax und seine Mitarbeiterinnen vor Kurzem einen Versuch abgeschlossen, in dem sie die positiven und negativen Gefühle von Schafen wissenschaftlich erfassten. «Die Emotionen von Tieren zu messen ist unglaublich schwierig», sagt Gygax. «Denn sie erzählen uns ja nichts davon.» Zwar ist die Intensität einer Erregung anhand von Messgrössen wie dem Ausstoss von Stresshormonen oder der Herzfrequenz noch erfassbar, doch nur schon bei der Entscheidung, ob es sich um positive (Wohlbefinden, Freude) oder negative Gefühle (Unwohlsein, Angst, Schmerz) handelt, wird es schwierig. Beutetieren, wie Schafe oder Rinder, merkt man unter Umständen selbst grössten Schmerz nicht an – ein Verhalten, das im evolutionsgeschichtlichen Erbe der Art verborgen ist, weil früher jede Auffälligkeit in der Herde das Ende eines Individuums bedeuten konnte.
Lorenz Gygax und seine Mitarbeiterinnen suchten nach Kriterien, die das Wohlbefinden der Tiere zum Beispiel in verschiedenen Haltungssystemen objektiv wiedergeben. Dafür wurden sechzehn Schafe während der Fütterung einer neutralen, einer positiven und einer negativen emotionalen Situation ausgesetzt: Sie bekamen einmal normales Futter, einmal das von ihnen heiss geliebte trockene Weissbrot, schliesslich geschmacklose Holzpellets. Als Kriterien wurde die Kombination von physiologischen Messwerten (Herzfrequenz, Atemfrequenz) mit Verhaltensmerkmalen (Ohr- und Schwanzbewegungen) gewählt. Mit Hilfe eines automatischen Kamera-Erfassungssystems wurden die Ohr- und Schwanzstellungen der Versuchsschafe festgehalten. Die Auswertungen ergaben, dass sich ein negativer Gefühlszustand deutlich durch viele Ohrbewegungen, zusammen mit einer höheren Herz- und Atemfrequenz auszeichnete. Es war jedoch nicht möglich, den «erfreuten» Gefühlszustand vom neutralen Zustand zu unterscheiden. «Positive Emotionen sind offenbar schwieriger zu erfassen», sagt Gygax, «vielleicht auch deshalb, weil die einzelnen Tiere positive Gefühlslagen unterschiedlicher ausdrücken als die negativen. Dies ergibt Sinn, denn in negativen Situationen – bei Angst, Gefahr, Flucht – ist eine klare und eindeutige Strategie gefragt.»
«Das Kreuz in der wissenschaftlichen Verhaltensforschung ist», sagt Lorenz Gygax am Ausgang des Klosters, «dass wir mit unseren statistischen Methoden durchschnittliche Reaktionen der Tiere erfassen. Tiere, die anders oder auch nur extrem empfindlich reagieren, gehen in der Masse der Daten unter.» Die meisten seiner Versuchsschafe etwa waren völlig verrückt nach dem angereicherten Futter, so wie es die Versuchsanordnung auch vorsah. Eines der Schafe jedoch – und sie wüssten nach wie vor nicht wieso – sei immer wie wild auf die faden Holzpellets losgegangen, habe mit allen physiologisch und verhaltensmässig erdenklichen Signalen der Freude reagiert, wo sich die «normalen» Schafe bloss abgewendet hätten.
Die Geschichte der Emotionsforschung bei Tieren bewegte sich schon immer zwischen Anekdoten und streng kontrollierten Laborversuchen. Und sie ist gekennzeichnet von etlichen Paradigmenwechsel. Vor hundertfünfzig Jahren gehörte die Beschreibung von tierischen Gefühlen zu einer anerkannten Teildisziplin der Psychologie. Auch Charles Darwin widmete seinem Werk «Der Ausdruck von Emotionen im Mensch und im Tier» viel Zeit und Energie, in dem er seine Beobachtungen präzise beschrieb. Doch bald sahen die Forscher ein, dass der Weg der Beobachtung allein in eine intellektuelle Sackgasse führt. Man konnte dem Wesen der Tiere einfach nicht gerecht werden, wenn man ihre Gefühle und Verhaltensweisen nur nach dem Referenzsystem menschlicher Erfahrungen beschrieb. Prompt tauchte die Gegenbewegung des Behaviourismus auf, vor allem vertreten durch den amerikanischen Psychologen B. F. Skinner. Er bezeichnete die mentalen Zustände als Blackbox, die nicht mit redlichen wissenschaftlichen Mitteln geöffnet werden könnte. Die Wahrheit lag seiner Meinung nach nur in streng kontrollierten Reiz-Reaktions-Experimenten unter Laborbedingungen. Feldbeobachtungen galten fortan als unwissenschaftlich. Das Tier als Subjekt mit mentalen oder gar emotionalen Zuständen war in diesem Weltbild schlicht und einfach nicht vorgesehen.
Der lesende Schimpanse
Etwa in den Sechzigerjahren setzte eine Gegenbewegung ein; charakteristisch für sie ist ein Diktum des promi¬nenten Harvard-Zoologen Donald Griffin. Er warf dem rigiden Gedankengebäude der Behaviouristen vor, dass die «Vorstellung, dass sich alle Tiere in einem Zustand ähnlich einem menschlichen Schlafwandler bewegen würden, auch eine Art negativer Dogmatismus» sei. Seine Forscherkollegen forderte er auf zu akzeptieren, dass Tiere auch Gedanken und Gefühle hätten. Manche Wissenschaftsphilosophen glauben, dass der gesellschaftliche Aufbruch der 68er-Bewegung und die grössere Zahl von Frauen in der Forschung erst diese Neubewertung der subjektiven Erfahrung bewirkten. Erst jetzt waren Beobachtungen an einzelnen Tieren wieder statthaft, und Berichte vom lesenden Schimpansen Washoe oder vom sprechenden Papagei Alex erhielten die Bedeutung, die ihnen zusteht. Bezeichnend für diesen Paradigmenwechsel ist auch der mit Enthusiasmus aufgenommene Essayband der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren mit dem Titel «Auch meine Kuh will Spass haben».
Es waren dann aber vor allem die Neurowissenschaften, die zu wesentlichen Einsichten und neuen Erkenntnisse führten. Emotionen gelten demnach als mehrheitlich unbewusst ablaufende Prozesse in bestimmten Teilen des Zentralnervensystems, die eine körperliche Reaktion auslösen können und für das Überleben unerlässlich sind. Es gibt verschiedene Hirnareale, vor allem das limbische System, in denen Emotionen hauptsächlich gesteuert werden – meistens sind es evolutionsgeschichtlich ältere Teile des Kleinhirns wie der Hippocampus oder die Amygdala. Man unterscheidet heute zwischen den vier Basis-emotionen Wut, Jagdtrieb, Angst und Neugier und der damit verbundenen Vorfreude. Aber auch soziale Gefühle kennen die Tiere, die jedoch schwieriger zu bestimmen und voneinander abzugrenzen sind. Dazu gehören sexuelle Anziehung und Lust, Trennungsschmerz von Mutter und Kind, die soziale Bindung und die Freude am Spielen und Herumbalgen. Beim Menschen laufen die gleichen Emotionen ab, doch im Unterschied zu den meisten Tieren hat sich beim Menschen eine riesige Grosshirnrinde entwickelt – der Neocortex –, in der diese Emotionen bewusst erlebt, aber auch unterdrückt oder verdrängt werden können. Tiere erleben also mit Sicherheit Emotionen, aber sie erleben sie wahrscheinlich anders als der Mensch.
Die Erkenntnisse aus der Verhaltens- und Emotionsforschung zeigen: Ein auf das Wohlbefinden ausgerichteter Tierschutz, der den Nutztieren ein glückliches Leben gewährt, ist heute Verpflichtung, selbst wenn dies mehr Anstrengungen bedarf als das bis vor Kurzem geltende Tierschutzdogma, wonach vor allem das Leiden vermindert werden sollte. Natürlich geht ein solcher Wechsel nicht immer zur Freude der Bauern vonstatten. Die Reaktion des Schweizerischen Bauernverbandes auf die neue Tierschutzverordnung, die seit September in Kraft ist, spricht Bände: «Das verschärfte Tierschutzgesetz kostet viel Geld», war die Schlagzeile im «Schweizer Bauer». In vielen Anbindeställen etwa finden sich noch die berüchtigten Kuhtrainer. Elektrisch geladene Leisten, die dem Tier einen Stromschlag verpassen, sobald es seinen Rücken beugt, um seine Notdurft zu verrichten – eine Vorrichtung, die von Tierschutzexperten als eindeutig nicht tiergerecht eingestuft wird. Und obwohl zum Beispiel Forscher aus Tänikon hieb- und stichfest bewiesen haben, dass es den Mastmunis bedeutend wohler wäre, wenn sie ihr Leben im Stall auf 3,5 Quadratmetern statt 2,5 Quadratmetern pro Tier fristen könnten, bessere Fleischleistung bringen sie dadurch nicht. Prompt bekämpften die Mastbauern eine entsprechende Umsetzung in der Tierschutzverordnung heftig und verhinderten die volle Flächenanpassung. Gemäss der neuen Regelung muss ein Mastmuni in seinem kurzen Leben mindestens 3 Quadratmeter zur Verfügung haben.
Der Fürsorge folgt Tod
Nur menschliche Monster, so behauptet dagegen der radikale österreichische Tierrechtsphilosoph Henri Kaplan, können die Idee einer «humanen» Fleischproduktion entworfen haben. Wer sonst, wenn nicht ein wahres Ungeheuer, umsorge ein geliebtes Wesen, nur um es am Schluss doch zu schlachten und zu essen? (Noch schrecklicher könne nur noch die milliardenfach praktizierte Vergasung von männlichen Küken sein, die – bloss weil sie keine Eier legen – einfach Abfall sind.) Wir Menschen, lautet der Vorwurf von Kaplan, würden uns dem neuen art- und tiergerechten Tierschutzdogma folgend so verhalten wie jemand, der seine Kinder in grosser Liebe aufzieht, mit allen Mitteln dafür Sorge trägt, dass es ihnen an nichts fehlt und sie eine sorgenfreie, glückliche Kindheit haben – um sie dann, sobald sie ein bestimmtes Gewicht erlangt haben, umzubringen.
Die Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken ist seit Jahrhunderten Kern der Auseinandersetzungen einer ganzen Anzahl von Philosophen und Tierethikern. In der Alltagsmoral wird die Verwendung von Tieren – meist mit Verweis darauf, dass es die Natur ja genauso mache – zwar nicht infrage gestellt. Sie folgt im Prinzip den Ideen des deutschen Philosophen Immanuel Kant, gemäss dem die Tiere den Menschen als Mittel zum Zweck zur Verfügung stünden, was aber nicht heisst, dass man sie leiden lassen dürfe. Kant bildet die Grundlage des geläufigen pathozentrischen Tierschutzes. Spätere Denker haben jedoch das Kriterium des Selbstbewusstseins eines Lebewesens ins Zentrum gerückt. So etwa der australische Philosoph Peter Singer, aber auch der amerikanische Tierethiker Tom Regan, der vom Menschen eine streng vegetarische Lebensweise fordert. Tiere, die einen vernünftigen Lebensplan, eine Art Bewusstsein ihrer selbst sowie der Zeitachse und eine Vorstellung vom Tod haben (könnten), müssten danach geschützt werden, ebenso sehr, wie es ein Menschenleben zu schützen gelte.
Bäuerin Elisabeth Hänni ist überzeugt, dass es ihre Kühe wahrnehmen, wenn der Viehhändler kommt. «Sie sind nervös, merken, dass etwas anders ist und wehren sich manchmal wie verrückt gegen das Einladen.» Andererseits schere die Tiere, die zurückbleiben, das Ganze gar nicht, hat die Bäuerin festgestellt. Diese würden nicht realisieren, dass eine Kuh fehlt. Auch die Herde als Ganzes sei deswegen nicht nervöser oder aber ruhiger. Dass aber die Tiere, die weggebracht werden, aufgeregt sind, hat auch Anet Spengler, Tierhaltungsexpertin am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick, beobachtet. «Allerdings ist es eher das Neue, das Ungewohnte, Unerwartete und in vielen Fällen der erstmalige nahe Kontakt mit Menschen, der sie erschreckt», sagt Spengler. «Die Tiere haben in solchen Momenten extremen Stress, sie schütten Hormone wie wild aus. Das schlägt sich dann natürlich auch auf die Fleischqualität nieder.» Dass dem so ist, konnten Anet Spengler und ihre Mitarbeiterin Johanna Probst kürzlich in einem Versuch zeigen, in dem sie Mastmunis rund einen Monat vor der Schlachtung besuchten und auf den Kontakt mit Menschen vorbereiteten. Sie gingen zu den Tieren an den Fressplatz, streichelten und kraulten sie mehrmals vier Minuten lang hinter den Ohren – ganz wie es das Tier am liebsten mochte. Tatsächlich zeigte sich, dass derartig vorbereitete Tiere am Tag der Schlachtung nicht so verschreckt waren, weniger Stress anzeigende Parameter im Blut hatten und bessere Fleischqualität lieferten. Das Schlimmste für diese sozialen Tiere ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass sie von der Herde getrennt, mit völlig anderen Kühen transportiert und von fremden Menschen herumdirigiert werden. Um diesen Stress zu vermeiden, gäbe es eine einfache Lösung, die in EU-Staaten zum Teil angewandt wird: Der angenehmste, schnellste und schmerzfreieste – kurz: der tiergerechteste – Tod für ein Rind ¬wäre, wenn es auf der Weide bei der Herde geschossen werden könnte. Dieses Vorgehen ist in der Schweiz jedoch verboten – aus fleischhygienischen Gründen. Paradox ist: Beim Gehegewild ist dieses «tierfreundliche» Verfahren sogar vorgeschrieben.
Dass Nutztiere eine klare Vorstellung vom Tod und ihrem bevorstehenden Ende haben, konnte bisher noch nicht bewiesen werden. Diese Frage bleibt offen, so wie es nach wie vor schwierig ist, die Emotionen und Gedanken von Tieren zu verstehen und zu beschreiben. Doch bis diese bewiesen werden können, wäre es sicher nicht das Schlechteste, erst einmal von deren Existenz auszugehen. Und den Tieren ein möglichst verträgliches Leben und Sterben zu gewähren.
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